Eine kurze Beschreibung der Pariser Kommune im Jahre 1871
Von E. Beifort Bax, Viktor Dave und William Morris
Die Reihe von Ereignissen, die wir unter dem Namen der Pariser Kommune verstehen, ist ein bemerkenswertes Beispiel davon, wie leicht die geschichtlichen Tatsachen ins Fabelhafte übergehen. Als sie vor sich gingen, machten sie den tiefsten Eindruck auf die ganze zivilisierte Welt, und heute sind sie dennoch für die meisten zur Legende geworden oder höchstens zum Symbol dessen, was einige fürchten und hassen und andere mit Hoffnung erfüllt.
Die Geschichtsschreiber der Bourgoisie, die in der Geschichte nichts weiter sehen als ein zufälliges Spiel der Ereignisse, ohne Sinn und Logik, haben natürlich nicht die Bedeutung der Kommune erkannt. Sie haben nicht begriffen, daß auf politischem Gebiet die Revolution von Paris in Frankreich eine neue — föderalistische — Form der Administration anstrebte, die der alten staatlichen Tradition Frankreichs und auch allen anderen Staaten schnurstracks zuwiderlief; und daß diese Revolution auf sozialem Gebiete den endgültigen Bruch zwischen der Arbeiterklasse und den herrschenden Klassen darstellt. Die Arbeiter, die sich seit den Zeiten der mittelalterlichen Kommunen und der großen Revolution von 1793 zum erstenmal wieder organisiert vereinigten, waren bemüht, eine neue Welt zu erschaffen — die Welt der selbständig und frei organisierten Arbeit.
Diese Geschichtsschreiber schienen auch zu glauben, daß mit der Niederlage der Kommune alles wieder ins alte Geleise zurückfallen würde. Sie konnten nicht begreifen, daß die großen Bewegungen der Geschichte nicht durch die zufällige Folge von Siegen und Niederlagen bestimmt werden, und daß die Pariser Kommune trotz ihrer blutigen Unterdrückung zum Ausgangspunkt der neuen Kampf bestrebungen der gesamten revolutionären Arbeiterklasse wurde.
Doch die Arbeiter außerhalb Frankreich wissen heute kaum etwas von den Ereignissen, die zwischen März und Juni des Jahres 1871 sich in Paris abspielten. Wir halten es für unsere Pflicht, sie über dieselben aufzuklären und so einen Teil einer Unwissenheit zu beseitigen, durch welche sie von den Herrschenden in Knechtschaft gehalten werden.
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Wir müssen unseren Lesern die vorhergehenden Ereignisse kurz in Erinnerung bringen. Durch die Niederlage der französischen durch die preussische Armee bei Sedan (Sept. 1870) fand die Laufbahn des Abenteurers Napoleon III. ihr Ende. In Paris wurde die Republik ausgerufen, und viele ehrliche Leute bildeten sich ein, daß damit ein neues Zeitalter für Frankreich heranbrechen würde; in Wahrheit aber wurde das System der bestehenden Herrschaft nur durch eine neue Bande von politischen Betrügern weitergeführt. Der Kampf gegen die vordringenden deutschen Eroberer wurde, oft in heldenhafter Art, fortgesetzt; doch die Führer der Armee waren durch und durch korrumpiert. Der Verrat des Feldmarschalls Bazaine, der die einzige Armee, die Frankreich noch besaß, samt der starken Festung Metz den Preußen auslieferte, ist nur ein typisches Beispiel von dem, was überall geschah. Nicht die deutschen Eindringlinge, sondern ein anderer Feind machte den Generalen am meisten Angst: dieser Feind war die Arbeiterbevölkerung der großen Industriestädte und besonders von Paris.
Der Heldenkampf, für welchen sich das Volk von Paris zur Verteidigung der Stadt rüstete und diese auch, soweit es nicht daran gehindert wurde, durchführte, wurde durch die Befehlshaber, mit dem General Trochu an der Spitze, systematisch zunichte gemacht; man schrieb dies damals der Unfähigkeit der Kommandanten zu, in Wahrheit war es ihr Verrat. Sie wollten Paris nicht fürs Volk retten, sondern blos für die Beherrscher des Volkes; wenn ihnen dies nicht gelang, war ihnen alles übrige einerlei, wenn es nur nicht die Revolution war.
Dies war der Zustand von Paris nach der Kapitulation und dem Einzug der Preußen am 28. Februar 1871. Ein Volk, verraten, aber bewaffnet, und mehr oder minder für den Krieg organisiert. Denn die Nationalgarde, d.h. beinahe die gesamte männliche Arbeiterbevölkerung von Paris war, obgleich sie von Trochu und Co. verhindert worden war, ihre ganze Kraft zu entfalten, stark und zahlreich, und sie war nicht durch die Preußen entwaffnet worden, wie die reguläre Armee; sie war sich auch vollkommen klar darüber, daß die Nationalversammlung, die ihren vorläufigen Sitz im benachbarten Versailles aufgeschlagen hatte und nicht blos antirevolutionär, sondern einfach monarchistisch gesinnt war, beschlossen hatte, sie zu vernichten.
Dies wurde, nach einer kurzen Zeit von Aufregung und Zögern, dadurch offenkundig, daß die Regierung einen reaktionären General — D’Aurelles de Paladines — zum Kommandanten der Nationalgarde ernannte (dieselbe hatte bis dahin ihr Recht behauptet, ihre Offiziere selbstzuwählen); und daß sie die Kanonen, die sich die bewaffnete Arbeiterbevölkerung der Stadt mit großen Opfern und Entschlossenheit angeschafft hatte, in ihre Gewalt bringen wollte. Die Nationalgarde widersetzte sich diesem Versuch; am 16. und 17. März erließ die Regierung energische Proklamationen gegen dieselbe, und am 18. frühmorgens versuchte sie, durch einen militärischen Handstreich sich in den Besitz der Kanonen zu setzen. Zwischen den in Bereitschaft stehenden und beim Klange der Alarmglocken von überall zusammeneilenden Nationalgarden und den von der Regierung ausgesandten regulären Truppen wurden aber nur wenige Schüsse gewechselt, da der größre Teil der letzteren sich weigerte, aufs Volk zu feuern und gemeinsame Sache mit diesem machte. Der General Lecomte, der an diesem Tage viermal den Befehl erteilte, aufs Volk zu schießen, und der General Thomas, der sich während der Belagerung durch seine Brutalität verhaßt gemacht, wurden von ihren eigenen Truppen erschossen; andere gefangen genommene Offiziere wurden am nächsten Tag freigelassen.
Dies war der Beginn der Revolution; Paris und seine Befestigungen, einschließlich des die Stadt beherrschenden Mont Valerien, wurden von ihren Garnisonen verlassen; diese Truppen wurden von der Nationalgarde, die nicht wußte, was vorging und einen neuen Angriff erwartete, ungehindert ziehen gelassen.
Am nächsten Tag, den 19. März, fand Paris sich frei. Die einzige wirkliche Macht in der Stadt war das Zentralkomitee in der Nationalgarde, das aus ehrlichen Leuten bestand, die keine Politiker, im gebräuchlichen Sinne der Wortes, waren; die aber, als Zentralkomitee, gleich anfangs für die Pariser Kommune verhängnisvoll wurden. Darunter befanden sich 15 Sozialisten, Mitglieder der “Internationalen Arbeitervereinigung”, die, als man sie aufforderte, die verlassenen Regierungsposten einzunehmen, mit Entrüstung die Zumutung zurückwiesen, mehr als Bezahlung zu beziehen, als ihren bisherigen Arbeitslohn und sich beeilten, die ihnen aufgezwungene Macht niederzulegen und dem Volk von Paris wieder zu übergeben.
Ihr erster Schritt war, das Volk zur Wahl seiner Kommunal-Vertreter aufzufordern und den Belagerungszustand für beendet zu erklären. Sie fanden sich durch die Opposition der Bezirksvorsteher und der in Paris lebenden Parlamentsmitglieder gehindert, die besorgt waren, das Vorgehen des Volkes, das sich soeben durch eine Empörung befreit hatte, zu legalisieren. Diese Leute hatten die Frechheit, einen Gegen-Kommandanten der Nationalgarde und andere Stabsoffiziere zu ernennen, als ob sie die gesetzliche Macht in Paris repräsentierten.
Durch diesen Widerstand ermutigt, — denn Saiset, der aufgezwungene Kommandant der Nationalgarde, versuchte reaktionäre Bataillone zu organisieren, — dachten die Reaktionäre, daß sie einen Handstreich wagen könnten, und am 22. März begab sich eine anscheinend unbewaffnete Menge von Herren, Börsianern, Journalisten zum Vendome-Platz (auf welchem das Denkmal Napoleon’s I. steht) um gegen die Kommune zu demonstrieren. Sie beleidigten die dort aufgestellten Nationalgarden und auf die Aufforderung, sich zu entfernen, zogen sie versteckte Revolver heraus und feuerten auf die Garden; diese erwiderten das Feuer, aber nur ein paar Demonstranten wurden tödlich getroffen; der Rest verließ den Platz in wilder Flucht.
Dieser Niederlage eines offenen reaktionären Attentates folgte bald der Zusammenbruch der gesetzlichen radikalen Opposition im Parlamente, welche, von der Versailler Nationalversammlung zurückgewiesen, und ohne Halt in Paris, den Platz der einzigen wirklichen Macht, dem Zentralkomitee der Nationalgarde, räumen mußte. Einige der Abgeordneten verließen Paris, um in Versailles ihre aussichtslose Rolle weiterzuspielen, einige aber vereinten ihr Schicksal mit jenem des Volkes und legten entrüstet ihr Abgeordnetenmandat nieder.
Am 26. März erfolgte dann die Wahl der Mitglieder des Kommunalrates. Von 101 Mitgliedern waren 21 entschiedene Sozialisten und Teilnehmer an der Internationalen Arbeiterassoziation. Die übrigen waren Fortschrittliche, Radikale und Jakobiner, mit Ausnahme einiger “respektabler” Leute, die sich aber bald zurückzogen. Aber, ob Radikale oder Sozialisten, fand sich die ganze Kommune gezwungen, in sozialistischem Sinne vorzugehen. Das Wohl des Volkes war und mußte ihr Ziel sein und die Eigentumsrechte der besitzenden Klassen wurden in verschiedenen Verordnungen angegriffen, welche versuchten, das Leben in Paris für die Arbeiter wenigstens möglich zu machen. Die Pariser Kommune bedeutete den Anfang einer neuen Welt für die Arbeiterklasse; ihr Fortbestehen hätte den Sturz aller Klassengesellschaft mit sich gebracht. Niemand sah dies so klar als die Reaktionäre, welche sich vorbereiteten, Paris und dessen furchtbare Rebellen anzugreifen. Ihr einziges Losungswort war nur die Ausrottung der letzteren.
Trotz dieses zügellosen Hasses der Reaktionäre wollte man in Paris nicht recht an ihre Feindschaft glauben. Die Kommune machte den großen Fehler, daß sie daran glaubte, ihre Stellung geschichtlich befestigen zu können. Sie handelte nicht mit dem klaren Bewußtsein dessen, daß sie sich in offener Empörung gegen die bestehende korrupte Herrschaftsordnung befand, und sie vergeudete die kostbare Zeit mit parlamentarischem Hin- und Herreden, anstatt ihr wunderbares Kampfesmaterial zu einer regelrechten Armee zu organisieren.
Doch jede Selbsttäuschung, die den Ausbruch eines Bürgerkrieges zu vermeiden glaubte, wurde unmöglich, als am 1. April die Versailler Truppen einen Vorposten bei Courbonne angriffen und nach tapferem Widerstand mit großen Verlusten zum Rückzug zwangen, die paar Gefangenen, die ihnen in die Hände fielen, wurden zuerst mißhandelt und dann erschossen. Einen Moment schien es, als ob in dem Kriege der jetzt unvermeidlich geworden, die Kommune siegen könne. Paris war mit Lebensmitteln, Geschützen und Munition wohl versehen, und es fehlte ihr nicht an tapferen Männern. Andererseits war in diesen Anfangstagen die Versailler Armee nichts weiter als ein Haufen geschlagener Soldaten, nicht mehr als 40.000; die besten Truppen bildeten die Gensdarmerie, der die Greueltaten, mit welcher sich die Partei der Ordnung besudelt hat, zum größten Teile zuzuschreiben sind.
Ein verhängnisvolles Versehen wurde gleich im Anfang von den Rebellen gemacht. Die Festung Mont Valerien, welche das ganze Seinetal beherrscht, war von den Versaillertruppen bei ihrem Anmarsch am 18. März unbesetzt gelassen. Die Armee der Kommune versäumte es, diese hochwichtige Position zu besetzen, und die Versailler Armee nahm dieselbe ungestört wieder in ihren Besitz. Auch hatte die Kommune-Armee keine Kavallerie, keine Kanoniere, und sie war sehr schlecht organisiert.
Mit all diesen Nachteilen wurde dennoch ein Ausfall beschlossen; und am 2. April marschierten 40.000 Mann in zwei Abteilungen gegen Versailles. Wie vorauszusehen war, wurden sie vollständig geschlagen. Die Verwirrung in der Heeresleitung der Kommune geht daraus hervor, daß dieselbe der Bevölkerung die Okkupation des Mont Valerien durch die Versailler verheimlicht hatte, so daß, als diese Festung das Feuer auf die Revolutionäre eröffnete, diese an einen Verrat glaubten, und eine wilde Panik entstand. Der Führer der einen Abteilung, Flourens fiel, jener der anderen, Duval, wurde gefangen genommen und sofort erschossen; dies geschah auch mit jenen gefangenen Revolutionären, die früher der regulären Armee angehört hatten. Die übrigen Gefangenen wurden nach Versailles geschleppt, wo die vornehmen Herren und Damen sie mit Insulten und Stockschlägen empfingen. Mittlerweile nahm der Aufstand der Kommunen von Marseilles, Narbonne und anderen Städten wegen Mangel an Organisation und an einem klaren Ziele bei den meisten Revolutionären ein Ende; und Paris blieb allein im Kampfe.
Die Pariser ließen sich durch diese erste Niederlage nicht einschüchtern, sondern machten sich daran, den Krieg nun definitiv zu führen. Auf die Hinmordung der Ihrigen durch die Versailler antworteten sie mit einem Dekret, in welchem ausgesprochen wurde, daß ein jeder, der verdächtig sei, die Versailler Regierung zu unterstützen, verhaftet und binnen achtundvierzig Stunden vor Gericht gestellt werden solle; jene, die für schuldig befunden würden, sollten als Geiseln in Haft behalten und im Verhältnis zu den von den Versaillern ermordeten Kriegsgefangenen erschossen werden — ein Dekret, das aber nicht ausgeführt wurde; und es wurde von den Revolutionären an den Gefangenen auch keine Vergeltung geübt, bis in den letzten Verzweiflungstagen eine Anzahl von ihnen in tumultarischer Art erschossen wurden. Nach gewöhnlichem Kriegsgebrauch wäre dies schon viel früher geschehen.
Übrigens befanden sich unter diesen Geiseln keine wichtigen Persönlichkeiten, und die Versailler Regierung kümmerte sich auch nicht viel um das Los derselben. Aber die Kommune hielt etwas in Händen, was viel wichtiger war — nämlich die Bank von Frankreich, mitsamt dem Register der Besitztümer im Werte von insgesamt zwei Milliarden 180 Millionen Francs. Die Leiter der Kommune ließen diesen Feind, den sie so leicht zum machtvollen Verbündeten hätten machen können, unangetastet — eine Schwäche, welche sie trotzdem nicht vor den Schmähungen der Volksfeinde sicherstellte. Während dieser ganzen Zeit war, trotz der zweimaligen langen Belagerung, die Stadt im inneren vollkommen ruhig, ordentlich und sicher, so wie sie weder davor noch danach je gewesen. Der Geist des Sozialismus beseelte die große Masse der Bevölkerung, obgleich es ihren Führern im allgemeinen an revolutionärer Kraft mangelte.
Aus: “Wohlstand für Alle”, 3. Jahrgang, Nr. 6 (1910). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.